Die geschlossene Welt. Warum der Nihilismus keine Sprache mehr findet
- Michael Krieger

- 26. Sept.
- 14 Min. Lesezeit

Die kulturelle Erschöpfung
Am Anfang steht oft ein kaum greifbares Gefühl. Ein leises Unbehagen beim Lesen eines Romans, den man eigentlich mögen müsste. Eine vage Enttäuschung beim Blick auf die Leinwand, obwohl das Popcorn frisch und die Kinosessel neu sind. Oder dieser Moment im Museum, wenn man sich beim Gedanken ertappt: Habe ich das nicht alles schon mal gesehen?
Ich hatte diesen Moment zuletzt beim Lesen von Michel Houellebecqs Vernichten. Es ist keineswegs ein schlechtes Buch. Es ist sogar — handwerklich betrachtet — ein sehr gutes. Und doch wirkt es müde. Nicht müde im Sinne von erschöpft geschrieben, sondern müde im Ton, in der Haltung, in seinem Blick auf die Welt. Es wirkt, als ob Houellebecq selbst nicht mehr glaubt, dass das, was er jahrzehntelang seziert hat, noch etwas in Bewegung setzen kann. Die Ironie, die Resignation, die stille Wut — all das ist noch da. Aber es zieht nicht mehr. Es scheint, als ob das Thema, das ihn groß gemacht hat, aufgebraucht sei: die Leere im Herzen des modernen Menschen.
Diese Leere war über Jahrzehnte hinweg das große Thema unserer Kultur. Sie begann philosophisch — bei Nietzsche, der den Tod Gottes ausrief und damit nicht nur eine theologische Aussage machte, sondern eine existentielle. Wenn es keinen letzten Sinn mehr gibt, so Nietzsche, dann müssen wir ihn selbst schaffen. Der Mensch wird zum Schöpfer seiner eigenen Werte. Das klang radikal und befreiend. Und es war es auch — eine Zeit lang.
Später kam Sartre. Er machte daraus ein ganzes Programm: Existenz vor Essenz. Wir sind dazu verurteilt, frei zu sein. Die Welt gibt uns keine Richtung, also müssen wir sie uns selbst geben. Das ist anstrengend, manchmal unerträglich, aber notwendig. Milan Kundera schloss daran an, mit einem ganz anderen Ton. Seine unerträgliche Leichtigkeit des Seins ist das vielleicht feinste literarische Dokument dieser Haltung: Der Mensch, leicht, weil ohne Schicksal, ohne Tiefe — und gerade deshalb voller Schwere. Eine paradoxe Freiheit, die sich kaum tragen lässt.
Diese Linie — von Nietzsche über Sartre zu Kundera — mündete schließlich in das Werk von Houellebecq. Er radikalisierte die Diagnose, entkleidete sie der letzten metaphysischen Reste. Bei ihm gibt es keine Revolte mehr, kein Ringen um neue Werte. Nur noch Zynismus, Lustlosigkeit, Rückzug. Der Mensch bei Houellebecq ist allein, und er weiß es. Seine einzige Verbindung zur Welt ist der Konsum — von Produkten, von Körpern, von Schmerzmitteln. Und selbst das funktioniert nur noch halb.
Doch irgendwann wurde auch das schal. Nicht nur bei Houellebecq, sondern in der Kultur insgesamt. Der Nihilismus, der einst als Schock kam, als intellektuelle Zumutung, ist zur Routine geworden. Zur Pose. Zur Stilistik.
Man sieht das im Kino. Die großen Filme der letzten zwanzig Jahre erzählen oft dieselbe Geschichte. Marvel. Star Wars. Batman. Immer wieder die gleiche Heldenreise, die gleichen Opfer, die gleichen Explosionen. Was als Mythos begann, wurde zur Formel. Und die Formel langweilt. Selbst die Ausnahmen — etwa Joker oder Everything Everywhere All At Once — sind letztlich nur Varianten im System, keine Brüche.
Oder nehmen wir Serien. Squid Game war ein Phänomen, keine Frage. Es zeigte eine Welt, in der Menschen ihr Leben für Geld aufs Spiel setzen — ein nihilistisches Gleichnis, das kaum noch überzeichnet werden konnte. Aber was passiert in der zweiten Staffel? In der dritten? Es ist der gleiche Plot, nur anders eingefärbt. Der Schock nutzt sich ab. Das Nichts verliert seine Kraft, wenn es zur Wiederholung wird.
Und dann sind da die Kunstmessen. Die Art Basel, die Positions Berlin, die Frieze in London — riesige Marktplätze für Bilder, Objekte, Installationen. Und fast nichts davon überrascht. Man sieht Ironie, man sieht Zitat, man sieht Konzept — aber man sieht kaum etwas, das einen wirklich herausfordert. Die Ästhetik wiederholt sich selbst. Die Provokation ist kalkuliert. Das Neue ist meist nur das Alte mit anderem Titel.
Trotzdem sind sie voll. Die Museen. Die Galerien. Die Klubs. Die Messen. Das ist das eigentlich Interessante: Die Leere zieht Menschen an. Man weiß zwar, dass da nichts Neues kommt — aber man geht trotzdem hin. Vielleicht gerade deshalb. In einer Welt, die keine Richtung mehr vorgibt, wird die Wiederholung zum Rettungsanker. Was früher Freiheit bedeutete, ist heute Überforderung. Und was früher als Stillstand galt, wird heute als Geborgenheit empfunden.
Man sieht das besonders deutlich an der Klubkultur. Die Berliner Technoszene wurde jüngst zum immateriellen Kulturerbe erklärt. Fast zeitgleich kämpfen viele Klubs ums Überleben. Neue eröffnen kaum noch. Die alten bleiben — und mit ihnen ihr Publikum. Das Berghain zum Beispiel hat vielleicht das älteste Publikum aller Klubs in Berlin. Menschen, die seit zwanzig Jahren dorthin gehen. Nicht, weil sie nach Neuem suchen, sondern weil sie wissen, was sie erwartet. Der dunkle Raum, die endlose Nacht, der Exzess als Ritual. Es ist fast ein Nachhausekommen. Ein Ort, an dem man dem Alltag entfliehen kann — und sich trotzdem nicht neu erfinden muss.
Diese Art von Geborgenheit im Bekannten — in der Leere, im Lärm, im Loop — ist kein kulturelles Phänomen am Rand, sondern ein zentrales Symptom. Der Nihilismus hat seine Form verändert. Er ist nicht mehr laut, sondern leise. Nicht mehr rebellisch, sondern tröstlich. Nicht mehr eine Verweigerung, sondern eine Routine. Man konsumiert ihn wie früher die Religion: als Halt in einer unübersichtlichen Welt.
Doch was passiert, wenn diese Orte verschwinden? Wenn auch die Wiederholung nicht mehr trägt? Wenn das Bekannte stirbt, weil es nichts Neues mehr gibt? Die Klubs werden älter, das Publikum auch. Die Serien werden schlechter. Die Bücher leerer. Die Provokation belanglos.
Was bleibt, wenn selbst das Nichts nicht mehr unterhält?
Vielleicht ist das der Punkt, an dem wir jetzt stehen. Der Nihilismus stirbt nicht, weil man ihn überwindet. Er stirbt, weil die Welt, in der er funktioniert hat, nicht mehr da ist. Er braucht eine Umgebung, in der man sich leisten kann, an nichts zu glauben — eine sichere, wohlhabende, stabile Welt. Eine Welt mit Fortschrittsglauben, mit halbwegs zuverlässigen Institutionen, mit der Idee, dass es ein Morgen gibt, das sich gestalten lässt. Nur unter solchen Bedingungen kann man das alles in Frage stellen. Nur dann ist es ein Luxus, zu sagen: „Alles ist sinnlos.“
Aber diese Welt ist im Schwinden. Die Ordnung, auf die der westliche Nihilismus gebaut war — geopolitisch, kulturell, moralisch —, sie löst sich auf. Internationale Allianzen bröckeln, politische Lager zerfallen. Es gibt keine klaren Koalitionen mehr, keine eindeutigen Feindbilder, keine verlässlichen Linien. Stattdessen: instabile Mehrheiten, wachsende Extreme, verschobene Debattenräume. Der politische Raum ist unkenntlich geworden — fragmentiert, nervös, überdreht.
Das hat Folgen für die Kultur. Denn die ist nie unabhängig von der Welt, in der sie entsteht. Was früher als progressiv galt, wird heute als Provokation wahrgenommen — oder als Gefahr. Kultur wird wieder konservativ gedacht: als Schutzraum, als Heimat, als das, was erhalten bleiben soll. Und genau das ist das Problem für den Nihilismus. Er braucht Bewegung. Er braucht die Möglichkeit des Andersseins. Er braucht ein Morgen, gegen das er sich abgrenzen kann. Nur dann kann er kritisieren, zerstören, dekonstruieren.
Doch das Morgen ist unklar. Es gibt kein Ziel mehr, nur noch Gegenwart. Und die ist überfordert mit sich selbst. In dieser Welt kann der Nihilismus nichts mehr ausrichten. Er hat keine Reibungsfläche, keine Perspektive, kein Gegenspiel. Er stirbt nicht, weil man ihn besiegt hätte — sondern weil er überflüssig geworden ist.
Was also bleibt?
Vielleicht ein leerer Raum. Vielleicht ein Übergang, den wir noch nicht verstehen. Vielleicht auch nur ein Schwebezustand — zwischen dem, was wir kennen, und dem, was wir noch nicht benennen können. Der Nihilismus hat uns lange begleitet. Jetzt geht er leise. Und was folgt, ist noch offen.

Das Ich ist müde
Manchmal merkt man es daran, wie schwer es geworden ist, sich selbst zu erklären. Früher sagte man einfach: Ich bin so — und das genügte. Heute klingt das oft wie eine Zumutung. Wer bist du, warum bist du so, und was berechtigt dich dazu, überhaupt eine Position einzunehmen?
Es ist ein Gefühl, das viele kennen, auch wenn es selten ausgesprochen wird: Das Ich wird anstrengend. Man spürt es in Diskussionen, in sozialen Medien, im Gespräch mit Freunden. Man fühlt sich müde von sich selbst. Müde von der Aufgabe, ständig eine Meinung zu haben, ständig eine Haltung zu entwickeln, ständig Position zu beziehen. Das Versprechen der Selbstverwirklichung — Jahrzehnte lang Leitmotiv westlicher Gesellschaften — hat sich ins Gegenteil verkehrt. Aus Freiheit ist Druck geworden. Aus Selbstentwurf: Selbstverteidigung.
Denn das Ich ist nicht mehr selbstverständlich. Es ist zum Objekt geworden — politisch, moralisch, sprachlich. Es steht im Verdacht, zu viel Raum einzunehmen oder zu wenig. Es soll sich zeigen, aber bitte nicht zu sehr. Es soll sichtbar sein, aber möglichst unanstößig. Es soll Position haben, aber nicht polarisieren. Kein Wunder, dass viele sich nach etwas sehnen, das stabiler ist als sie selbst.
Diese Sehnsucht richtet sich zunehmend auf das Kollektiv. Nicht mehr das Ich soll die Welt tragen — sondern ein neues, stärkeres Wir. Man will dazugehören. Man will wissen, wohin man gehört. Und man will, dass jemand anderes die Richtung vorgibt.
Das zeigt sich nicht nur in privaten Gesprächen, sondern auch im politischen Diskurs. Begriffe wie Volk, Nation, Heimat sind zurück. Lange galten sie als verstaubt, belastet, gestrig. Heute werden sie wieder aufgeladen — mit Emotion, mit Stolz, mit Macht. Dabei geht es selten um eine offene, inklusive Vorstellung von Gemeinschaft. Es geht nicht um „alle“, sondern um „uns“. Um die, die dazugehören. Und um die, die draußen bleiben sollen.
Der Nationalstaat, lange belächelt als Auslaufmodell, ist wieder da — als Sehnsuchtsort in unübersichtlichen Zeiten. In einer Welt, in der internationale Regeln bröckeln, Allianzen fragil geworden sind und politische Räume sich auflösen, erscheint das eigene Land plötzlich wieder als sicherer Hafen. Es verspricht Ordnung, Zugehörigkeit, Orientierung.
Doch es ist nicht nur die politische Landschaft, die sich verändert hat. Es ist die Welt selbst. Sie ist nicht einfach kompliziert — sie ist komplex geworden. Kompliziertes kann man lösen. Komplexes muss man aushalten. Die Konflikte, die uns umgeben — Gaza, Ukraine, USA gegen China, Europas innere Zerrissenheit — sie lassen sich nicht mehr auf einfache Ursachen oder klare Schuldfragen reduzieren. Und genau deshalb sind sie so schwer zu ertragen.
Der Rückzug ins Kollektiv ist auch ein Rückzug vor dieser Überforderung. Es ist das Bedürfnis, in einer unverständlichen Welt wenigstens etwas verstehen zu können. Ein wirksames Narrativ, eine einfache Antwort, ein klares Feindbild. Und wenn das nicht politisch gelingt, dann eben privat. Die Welt da draußen ist nicht mehr kontrollierbar — also gestalten wir uns wenigstens die Welt drinnen so, wie sie uns gefällt.
Der neue Biedermeier beginnt nicht in der Politik, sondern im Wohnzimmer. Man investiert in gute Möbel, ästhetische Küchen, aufgeräumte Lebensräume. Die Wohnung wird zur Bühne des Kontrollierbaren, zum Schutzraum vor der chaotischen Welt. Und in ihr lebt die Hoffnung, dass Ordnung noch möglich ist — wenn schon nicht global, dann wenigstens lokal, in den eigenen vier Wänden. Mit Dyson-Staubsauger und Lebensmittelbestellungen bei Flink.
Doch diese Bewegung hat ihren Preis. Sie vermeidet das Andere. Sie meidet den Widerspruch. Und mit ihm die Offenheit. Das, was die Welt eigentlich lebendig macht — die Vielfalt, die Reibung, das Aushalten von Differenz — wird als Störung empfunden. Stattdessen gewinnen einfache Wahrheiten an Bedeutung. Man spricht lieber darüber, ob das Gendern verboten werden sollte, als darüber, wie man mit Uneindeutigkeit leben kann. Man wählt lieber ein klares Ja oder Nein, als ein langes Vielleicht. Die Welt wird in Schwarz und Weiß geteilt — aus Angst vor den Grautönen.
So entstehen Echokammern. Nicht nur im Digitalen, sondern auch im Denken. Man glaubt nur noch, was sich gut anfühlt. Und lehnt ab, was dem eigenen Weltbild widerspricht. Die Idee, dass es mehrere Perspektiven geben kann, wird ersetzt durch den Wunsch nach einer einzigen, wahren Sichtweise. Der Relativismus, den der Nihilismus einst befeuerte, weicht einer neuen Absolutheit — aber diesmal ohne Gott, ohne Transzendenz, nur mit Meinung.
Darum stirbt der Nihilismus nicht an sich selbst — sondern an der Welt, in der er keine Resonanz mehr findet. Seine Fragen verhallen. Seine Leere stört. Seine Offenheit passt nicht mehr zur geschlossenen Gesellschaft.
Vielleicht liegt darin die eigentliche Tragik. Nicht, dass das Ich sich verliert — sondern dass es seine Sprache verliert. Die Sprache des Zweifelns, des Suchens, des Nichtwissens. An ihre Stelle tritt die Sprache der Gewissheit, der Zugehörigkeit, der Abgrenzung. Und die Kultur, die einmal ein Ort für offene Fragen war, wird mehr und mehr zum Ort der geschlossenen Antworten.
Was bleibt, ist ein leises Gefühl: dass wir uns auf etwas zubewegen, das uns Halt gibt — aber keinen Raum mehr hat.

Die Rückkehr der Mehrheit
Im Sommer 2024 erreichte die AfD in mehreren ostdeutschen Bundesländern ein Drittel der Wählerstimmen. In Thüringen wurde sie mit Abstand stärkste Kraft. Ein Teil der Bevölkerung jubelte. Der andere war schockiert. Die Kommentatoren überschlugen sich. Und die Parteien der Mitte verloren endgültig ihre Sprache.
Das Bemerkenswerte an diesem Moment war nicht nur das Ergebnis — sondern die Begründung, mit der es verteidigt wurde. Es hieß: „Das ist Demokratie. Die Mehrheit hat entschieden.“ Als ob Mehrheit allein schon ein Argument wäre. Als ob Quantität Wahrheit schafft.
Aber genau das ist die neue Logik: Die Mehrheit hat nicht nur Recht — sie ist das Recht. Wer widerspricht, gilt schnell als elitär, abgehoben, undemokratisch. Die Tatsache, dass viele etwas glauben, wird zur Legitimation ihres Glaubens. Dass diese „vielen“ oft laut, organisiert oder algorithmisch verstärkt sind, spielt keine Rolle. Es zählt, was als kollektiver Wille erscheint — nicht, ob es reflektiert ist.
Dabei ist diese Mehrheit oft gar keine. Sie ist ein Gefühl, eine Behauptung, ein Bild. Eine vorgestellte Mehrheit, nicht gezählt, sondern gefühlt. Wer sich auf sie beruft, braucht keine Statistik — er braucht Resonanz. Der Mythos vom „Volk“, das spricht, ersetzt die Mühe des Aushandelns. Der Populismus kennt kein Volk — er erfindet es.
Dazu braucht er keine Programme. Er braucht Geschichten. Geschichten vom Verrat, von der Entfremdung, vom Untergang. Geschichten, in denen es keine Täter gibt, nur Schuldige. Geschichten, in denen die Welt zu retten ist — wenn man nur die richtigen Menschen loswird. Diese Erzählungen sind nicht neu. Aber sie sind neu anschlussfähig geworden. Weil sie beruhigen.
Populistische Sprache ist nicht klug, aber wirksam. Sie lebt von kurzen Sätzen, klaren Bildern, schnellen Urteilen. Ihre Kraft liegt in der Vereinfachung. Sie ist eine Sprache der Richtung, nicht der Erklärung. Eine Sprache der Zugehörigkeit, nicht der Erkenntnis. Wer sie spricht, schafft ein Wir. Wer ihr widerspricht, wird zum Sie.
Carl Schmitt hat diese Logik früh beschrieben. Politik, so schrieb er, sei die Unterscheidung von Freund und Feind. Heute lebt dieser Gedanke weiter — nicht als Theorie, sondern als Alltagssprache. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Zwischenräume gibt es nicht mehr. Zögern ist Verdacht. Differenz ist Bedrohung.
Die Mehrheit wird zur Quelle der Wahrheit. Sie denkt nicht — sie glaubt. Und dieser Glaube ist immun gegen Widerspruch. Fakten, die nicht ins Bild passen, gelten als Lüge. Wissenschaft, die Unsicherheit aushält, wird als Schwäche abgetan. Und wer auf Komplexität hinweist, gilt als Teil des Problems.
Hannah Arendt schrieb, dass totalitäre Regime die Sprache nicht zerstören, sondern entleeren. Sie lassen die Wörter stehen — aber sie vertauschen ihren Inhalt. Freiheit wird zu Gehorsam, Volk zur Ausschlussgemeinschaft, Wahrheit zur Parole. Die Öffentlichkeit wird zur Bühne der Vereinfachung. Wer stört, stört den Konsens.
Auch die Kultur bleibt davon nicht unberührt. Sie soll wieder anschlussfähig sein. Bücher, die zu viel fragen, gelten als unverständlich. Theater, das verstört, gilt als elitär. Filme, die keine Hoffnung bieten, gelten als zynisch. Der Satz „Das versteht doch keiner mehr“ ersetzt das Gespräch über Bedeutung. Und so verschwindet leise das, was Kultur einmal war: ein Ort des Fremden, des Ungeklärten, des Widerspruchs.
Der Mythos ersetzt die Analyse. Nicht als schöne Geschichte, sondern als autoritäre Sinnform. Die Heimat wird wieder beschworen, die Herkunft idealisiert, die Vergangenheit verklärt. Kultur wird nicht mehr infrage gestellt — sie wird eingefordert. Kunst soll „etwas fürs Volk“ sein. Und was das Volk will, bestimmt nicht der Diskurs, sondern das Gefühl.
Doch wie entstehen diese Gefühle?
Ein Teil der Antwort liegt in der Welt selbst. Sie ist nicht mehr nur unübersichtlich — sie ist komplex. Komplexität bedeutet: Es gibt keine einfachen Lösungen mehr. Und oft nicht einmal ein vollständiges Verstehen. Die Konflikte, die uns umgeben — Gaza, Iran, USA gegen China, Europas innere Zerrissenheit — sie lassen sich nicht mehr auf klare Lager oder einfache Interessen reduzieren. Wer glaubt, sie durchschauen zu können, irrt. Und wer es zugeben würde, würde sich angreifbar machen.
In dieser Lage wird das Bedürfnis nach Ordnung zur psychologischen Notwendigkeit. Wer nicht mehr durchblickt, sucht etwas, das trägt. Nicht, weil er schwach ist — sondern weil er überfordert ist. Wahrheit wird nicht gesucht, sondern gebraucht. Sie dient nicht der Orientierung, sondern der Beruhigung.
Die Welt draußen ist zu chaotisch — also gestaltet man sich die eigene, kontrollierbare Umgebung als Gegenbild. Und in ihr gibt es wenig Platz für Fremdes, Uneindeutiges, Verstörendes.
So entstehen Echokammern — nicht nur in den sozialen Medien, sondern im Denken selbst. Man glaubt nur noch, was man schon glauben will. Man liest nur noch, was man erträgt. Man hört nur noch zu, wenn das Gesagte bereits bekannt ist. Und wer einen anderen Blick hat, wird nicht als Mitdenker gesehen — sondern als Gegner. Die Idee, dass Wahrheit sich im Streit entfaltet, wird ersetzt durch den Wunsch nach Bestätigung.
Und damit stirbt auch das letzte Terrain des Nihilismus. Denn der Nihilismus war nie bequem. Er war eine Zumutung. Eine Einladung zur Unsicherheit. Eine offene Form. Heute ist für offene Formen kein Platz mehr. Die Welt will wieder wissen, was richtig ist. Nicht: was fragwürdig sein könnte.
Die Leere, die einst ein Raum war, ist jetzt ein Makel. Der Zweifel, der einst eine Haltung war, ist jetzt ein Verdacht. Die Ambivalenz, die einst ein Reiz war, ist jetzt eine Schwäche.
Was bleibt, ist die Mehrheit. Und sie will glauben.

Was bleibt, ist das Fragen
Vielleicht beginnt es mit dem Gefühl, dass man am Ende dieses Denkens nicht ankommt. Dass man sich durch Worte bewegt hat wie durch Räume, in denen die Türen offenstehen — aber keiner mehr hineinführt. Es ist nicht das Ende einer Überzeugung, sondern das Ende eines Suchens, das nichts mehr findet, weil es keinen Ort mehr gibt, an dem sich noch etwas verbirgt.
Dieser Text war ein Versuch. Ein Denkraum. Keine Lösung. Kein Plädoyer. Kein Plan. Und er wusste von Anfang an, dass er daran scheitern würde, Ordnung in eine Welt zu bringen, die sich der Ordnung verweigert. Vielleicht war das von Beginn an der eigentliche Gegenstand: nicht das, was wir verstehen — sondern das, was sich dem Verstehen entzieht.
Denn das ist die Lage: Die Welt ist nicht nur anders geworden. Sie ist entgleist. Nicht in einem dramatischen, krisenhaften Sinne, sondern in einem stillen, fast beiläufigen. Die Dinge haben ihre Koordinaten verloren. Das Politische ist nicht mehr aufteilbar in links und rechts. Die Wahrheit nicht mehr unterscheidbar von Meinung. Die Öffentlichkeit nicht mehr zu unterscheiden von Performanz. Und das Ich: nicht mehr zu unterscheiden von den Zuschreibungen, die ihm täglich neu gemacht werden.
In dieser Landschaft ist Denken ein Wanderer ohne Karte. Es geht weiter, weil es sich bewegen muss. Aber es weiß nicht mehr, wohin. Und es kennt den Grund nicht mehr, warum es losgegangen ist.
Früher hätte man an dieser Stelle vielleicht versucht, Hoffnung zu formulieren. Eine Rückbesinnung. Einen neuen Anfang. Ein Drittes zwischen dem erschöpften Ich und dem regressiven Wir. Eine neue Sprache, einen neuen Sinn, einen neuen Mythos. Aber genau das will dieser Text nicht. Er will nicht trösten. Er will auch nicht retten. Er will nur zeigen, dass das, was einmal gedacht werden konnte, heute keine Spuren mehr hinterlässt.
Und doch: Es gibt ein Denken nach dem Denken. Keine Fortsetzung. Keine neue Richtung. Sondern eine andere Haltung. Eine, die sich nicht mehr mit Bedeutung absichert, sondern mit Aufmerksamkeit. Eine, die weiß, dass das Eigentliche sich oft genau dort zeigt, wo Sprache endet.
Ludwig Wittgenstein schrieb am Ende seines Tractatus logico-philosophicus: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
Dieser Satz ist kein Rückzug, sondern eine Verantwortung. Er sagt nicht: „Sag nichts.“ Er sagt: „Erkenne, wo deine Worte aufhören.“ Und vielleicht ist das genau der Ort, an dem ein neues Denken beginnen kann: nicht in Form von Reden, sondern in Form von Raum.
Ein Raum, in dem nicht gesagt werden muss, was richtig ist. Ein Raum, in dem das Ungewisse nicht sofort geklärt, das Andere nicht sofort vereinnahmt, das Komplexe nicht sofort reduziert wird. Ein Raum, in dem Schweigen nicht als Schwäche gilt, sondern als Möglichkeit.
Wir leben in einer Zeit, in der alles gesprochen wird. Zu schnell, zu laut, zu sicher. Und wir verlieren dabei den Zwischenraum, in dem die Dinge reifen, die nicht sofort benannt werden können. Die vorsichtige Idee. Das ungesicherte Gefühl. Das fragende Denken. Die leise Ahnung, dass es anders sein könnte — ohne zu wissen, wie.
Wenn der Nihilismus verschwunden ist, weil ihm die Welt keine Bühne mehr bietet, dann beginnt vielleicht genau jetzt etwas Neues. Aber es hat noch keine Worte. Und vielleicht darf es sie auch noch nicht haben. Weil jedes zu frühe Sprechen es sofort wieder in alte Formen presst. In Gewissheiten, in Positionen, in Lager. Und damit wieder zerstört.
Was wir brauchen, ist nicht eine neue Theorie.
Was wir brauchen, ist Geduld. Und Raum. Und eine andere Art von Ernst.
Vielleicht ist das der eigentliche Schluss dieses Essays: nicht der Punkt, sondern das Freilassen. Kein Fazit, sondern das Anerkennen einer Grenze. Nicht aus Verzweiflung — sondern aus Achtung. Achtung vor dem, was sich erst zeigen kann, wenn wir es nicht sofort benennen wollen.
Das Denken darf scheitern.
Es darf langsamer werden als die Zeit, in der es stattfindet.
Es darf zu spät kommen, zu leise, zu unklar.
Aber es darf nicht aufhören.
Denn es gibt noch Räume, auch wenn wir noch nicht wissen, auf was wir uns einlassen werden.

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